Das Museo d’arte della Svizzera (MASI) präsentiert die umfangreichste Retrospektive, die dem ghanaischen Fotografen James Barnor (Accra, Ghana, 1929, lebt und arbeitet in London) je gewidmet wurde. In seiner mehr als sechs Jahrzehnte langen Karriere auf zwei Kontinenten war Barnor ein aussergewöhnlicher Augenzeuge sozialer und politischer Veränderungen – von der Unabhängigkeit Ghanas bis zur afrikanischen Diaspora und dem Leben in der afrikanischen Gemeinschaft in London.
Das Museo d’arte della Svizzera (MASI) präsentiert die umfangreichste Retrospektive, die dem ghanaischen Fotografen James Barnor (Accra, Ghana, 1929, lebt und arbeitet in London) je gewidmet wurde. In seiner mehr als sechs Jahrzehnte langen Karriere auf zwei Kontinenten war Barnor ein aussergewöhnlicher Augenzeuge sozialer und politischer Veränderungen – von der Unabhängigkeit Ghanas bis zur afrikanischen Diaspora und dem Leben in der afrikanischen Gemeinschaft in London. Indem er sich mit grosser Gewandtheit in den unterschiedlichsten geographischen Regionen, Kulturen, und Genres bewegte – vom Fotojournalismus bis zum Studioportrait, von der dokumentarischen bis zur Mode- und Lifestyle-Fotografie – hat sich der anglo-ghanaische Fotograf immer durch einen modernen Blick und eine bahnbrechende Arbeitsweise ausgezeichnet. Obwohl er mehrere Generationen von Fotografen nicht nur in Afrika, sondern auch weltweit beeinflusst hat, ist sein Werk erst in jüngster Zeit wiederentdeckt und entsprechend gewürdigt worden. „James Barnor, Accra/London – A Retrospective“ zeigt eine Auswahl von über 200 Arbeiten aus Barnors persönlichem Archiv mit zahlreichen unveröffentlichten Fotografien. Neben Vintage Prints, Neuabzügen und Originaldokumenten umfasst die Ausstellung auch Titelseiten von Zeitschriften und LP-Cover, mit besonderer Berücksichtigung des Zeitraums 1950 bis 1980. Wie eine chronologische Erzählung verläuft der Parcours entlang bedeutender Werkgruppen und Schlüsselmomente für Barnors künstlerisches Schaffen durch die historischen Räume des Palazzo Reali – von den Anfängen in Accra bis zu den Aufenthalten in London. Mit der Retrospektive zu Barnors Werk eröffnet das MASI in Lugano die Ausstellungssaison 2022 im Zeichen der Kontinuität und bestätigt damit die in Lugano seit fast einem halben Jahrhundert gepflegte konstante Aufmerksamkeit für die zeitgenössische und historische Fotografie.
Die ersten Schritte im Bereich der Fotografie setzt Barnor in den frühen 1950er Jahren in Accra, wo er sein Studio mit dem programmatischen Namen „Ever Young“ gründet, ein pulsierender Treffpunkt von Menschen aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten. Die damalige britische Kolonie Ghana bewegt sich in Richtung Unabhängigkeit – und der junge Barnor nimmt die politische Leidenschaft und die Energie dieser Jahre in vollen Zügen auf, was auch in seinem Werk schnell sichtbar wird. Die strenge Struktur grossformatiger Studioportraits, deren Einfluss in seinen ersten Schwarz-Weiss-Portraits noch spürbar ist, löst sich in dynamischen und natürlichen Bildern auf, sobald er den Studioraum samt Stativ verlässt und auf der Suche nach Geschichten auf die Strasse geht: Wenn ich ein Foto brauchte oder eine neue Geschichte, eilte ich zum Markt von Makola, wo sich die Menschen am ehesten so verhielten wie sie wirklich waren. Das gefiel mit mehr als die Fotografie im Studio. Ich benutzte einen kleinen Fotoapparat. Das war die beste Möglichkeit, um Geschichten zu finden“, erzählt Barnor, der schnell Aufträge von der
Tageszeitung Daily Graphic erhält und damit zum ersten Fotoreporter des Landes wird. Schon in den Arbeiten aus diesem Jahrzehnt, die in den Ausstellungssektionen „Ever Young“ und „Independence“ zusammengefasst sind, zeigt sich Barners visuelle Handschrift, seine Fähigkeit, offizielle Geschichte und persönliche Geschichten auf der Ebene eines intimen Dialogs, einer Begegnung und einer menschlichen Beziehung gleichzeitig zu erzählen. In diesem Sinn ragt aus seinen bedeutungsvollsten Bildern eine Aufnahme mit Kwame Nkrumah heraus, der – gerade erst aus dem Gefängnis entlassen – einen Ball kickt.
Barnors Karriere setzt sich in London fort, wohin er 1959 übersiedelt. Dort dokumentiert er in seinen lebhaften Bildern das Leben der afrikanischen Gemeinschaft und wird zum bedeutendsten Augenzeugen der afrikanischen Diaspora in Raum und Zeit. Seine Bilder für die südafrikanische Zeitschrift „Drum“ – ein Bollwerk der Anti-Apartheidbewegung – erzählen mit einer offenen, spontanen und unkonventionellen Blickweise von den Londoner „Swinging Sixties“. In einer von weissen Engländern geprägten Welt platziert Barnor auf den Titelseiten von „Drum“ Models afrikanischer Herkunft wie Erlin Ibreck und Marie Hallowi.
James Barnor Photoshoot of musician, Salaga Market, Accra, c.1974-1976 Silbergelatine-Druck © James Barnor courtesy galerie Clémentine de la Féronnière, Paris
Angetrieben von dem Wunsch, technische Innovationen weiterzugeben, kehrt Barnor nach Accra zurück und eröffnet dort das erste Labor für Farbfotografie in Ghana. Diese Entwicklungstechnik hatte er sich – unter anderen – im wichtigsten Fotolabor Grossbritanniens, den Colour Processing Laboratories, angeeignet. Der Zugang zur Farbe revolutioniert auch die Rolle der Fotografie: Die Farbe hat das Verständnis der Menschen für Fotografie wirklich verändert. Kente ist ein Stoff aus Ghana, in dem viele Farben verwoben werden, und die Leute wollten nach dem Kirchgang oder in der Stadt in Kleidung aus Kente fotografiert werden und daher verbreitete sich die Nachricht sehr schnell“, erzählt Barnor. Einige Bilder in der Ausstellung zeigen den Schmuck, die Frisuren, die Kleidung und die Mode dieser Zeit – ein kostbares visuelles Archiv für die kunstgeschichtliche Forschung der Zukunft.
Barnors vielseitiges Talent zeigt sich auch bei kommerziellen Aufträgen. Darunter befindet sich ein PRKalender des italienischen Mineralölkonzerns AGIP aus dem Jahr 1974. Ein aussergewöhnliches Bild aus diesem Produkt ist in der Ausstellung vertreten und zeigt weibliche afrikanische Models, spontan und elegant, vor Benzinkanistern und Tanklastwagen. Zu diesen kommerziellen Aufträgen gehören auch Fotografien für die Covergestaltung von Langspielplatten von Musikern wie E. K. Nyame, dem Vater der ghanaischen Partymusik.
Die Leidenschaft für Musik und das ghanaische Volk bringen Barnor in diesen Jahren dazu, eine Musikgruppe für Kinder zu leiten, die sich erst Ebaahi Gbiko (All Will Be Well One Day) und dann Fee Hi (All is Well) nennt. Dieses Ensemble wird zu einem wichtigen Teil seines Lebens als Fotograf. 1983 begleitet er die jungen Musiker im Rahmen einer Anti-Apartheid-Kampagne auch bei einer Tournee in Europa. 1994 kehrt Barnor nach London zurück, wo er heute noch lebt.
Ein Video von Campbell Addy, in dem Barnor sein Werk vorstellt, und eine Videodokumentation über seine fotografische Arbeitweise ergänzen die Austellung.
Die von den Serpentine Galleries London konzipierte Ausstellung (19.05 – 24.10.2021) wird nach der Präsentation im MASI in Lugano im Detroit Institute of Arts in den USA (Frühling 2023) gezeigt, um den künstlerischen und sozialen Einfluss von James Barnor weiter bekannt zu machen.
Präsentiert in Zusammenarbeit mit Serpentine, London. „James Barnor, Accra/London – A Retrospective“ wird initiiert und organisiert bei Serpentine, London. Kuratiert von Lizzie Carey-Thomas, Chefkuratorin, Serpentine und Awa Konaté, Culture Art Society (CAS), Assistenzkuratorin.
Organisiert in Zusammenarbeit mit Clémentine de la Féronnière, Isabella Seniuta und Sophie Culière, James Barnor Archives.
Der Katalog
Zu „James Barnor, Accra/London – A Retrospective” ist im Verlag König, in Koproduktion mit den Serpentine Galleries London, dem MASI Lugano und dem Detroit Institute of Arts, ein Katalog erschienen. Die von Mark El-khatib entworfene und illustrierte Publikation in englischer Sprache enthält Beiträge von Christine Barthe, Sir David Adjaye OBE, David Hartt, Alicia Knock, Erlin Ibreck sowie ein Gespräch zwischen James Barnor und Hans Ulrich Obrist