Wunderbare Wundertüte Warschau

Befestigungsanlage Barbakan
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Die polnische Hauptstadt Warschau präsentiert zwischen Kulturpalast, Weichsel und der zum Weltkulturerbe der UNESCO gehörenden Altstadt eine ungeahnte Vielfalt.

Von Karsten-Thilo Raab

Ohne Frage ist die polnische Hauptstadt Warschau eine Stadt der vielen Gesichter. Da ist die prachtvolle historische Altstadt mit ihrem beeindruckenden, pastellfarbenen Häusern und dem Schloss, die nicht von ungefähr als Weltkulturerbe unter dem Schutz der UNESCO steht; da ist das moderne Zentrum rund um den imposanten und weithin sichtbaren Kulturpalast. Hier hat sich die 1,8-Millionen-Stadt zu einem Klein-Manhattan mit mächtigen Hochhäusern aus Glas und Stahl entwickelt.

Vom einstigen Ruf als das „Paris des Ostens“ ist nur noch wenig zu sehen. Dafür finden sich im Zentrum immer wieder auch stumme Bauzeugen aus der Zeit das Sozialismus wie etwa an der vielbefahrenen ulica Marszałkowska. Dabei hat Warschau den Wandel zu einer pulsierenden Millionenstadt vor allem den massiven wie verheerenden Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs zu verdanken. Während die Altstadt weitgehend originalgetreu wieder aufgebaut wurde, gibt sich das Zentrum überaus modern. Hier ragt mit dem Vaso-Turm das mit 310 Metern höchste Gebäude der Europäischen Union gen Himmel.

Im Schatten der zahllosen, hoch aufragenden Glas-Beton-Paläste setzt insbesondere der zwischen 1952 und 1955 errichtete Kulturpalast einen besonderen Akzent. Der polnische „Big Ben“ erinnert ein wenig an das Empire State Building in New York und avanciert zu einem Bauwerk der Superlative. Fast 3.300 Räume zählt der 237 Meter hohe Koloss, der in der Stalin-Ära vom russischen Architekten Lew Rudnew entworfen worden war.

„Wenn man jeden Tag nur einen Raum besichtigen würde, wäre man mehr als neun Jahre unterwegs“, rechnet Stadtführer Kasia Bhatia vor. Augenzwinkernd fügt die 30-jährige Powerfrau mit dem kurzen blonden Haar hinzu, dass der 44. Etagen zählende Kulturpalast auch „die größte öffentliche Toilette in Warschau“ beherbergt.

„Immer wieder gerne wurde auch kolportiert, dass es im Keller einen geheimen, Bahnhof gäbe, der es den Spitzen der kommunistischen Partei ermöglicht hätte, unterirdisch mit dem Schnellzug bis nach Moskau zu fahren“, so Kasia ein wenig amüsiert. Tatsächlich sind im Kulturpalast heute unter anderem verschiedene Kino- und Theatersäle, eine Schwimmhalle sowie die Hochschule für Fotografie angesiedelt. Im 30. Stockwerk befindet sich zudem in 114 Metern Höhe eine Aussichtsplattform, die einen großartigen Panoramablick auf die polnische Hauptstadt eröffnet.

Ins Rampenlicht rückte der Prachtbau übrigens auch im Jahre 1967, als die Rolling Stones als eine der ersten Rockbands überhaupt hinter dem viel zitierten Eisernen Vorhang vor 5.000 geladenen Gästen auftreten durften. „Für Mick Jagger & Co. dürfte es auch deswegen unvergesslich gewesen sein, weil sie statt vor kreischenden Teenagern überwiegend vor gesetzten, älteren Herrschaften mit Krawatte und Anzug auftraten“, weiß Kasia, dass die Kultband nach dem Gig erstmals auch Bekanntschaft mit Wodka machen durfte und sich von dem hochprozentigen Nationalgetränk begeistert zeigten.

Tatsächlich ist die Spirituose, die wahlweise aus Gerste, Roggen oder Kartoffeln hergestellt wird, bis heute nicht aus dem Alltag der Polen wegzudenken. Im hippen Trendstadtteil Praga wurde dem Wodka sogar ein eigenes Museum gewidmet. Seit 2017 bereitet das Muzeum Polskiej Wódki in den renovierten Räumlichkeiten der ehemaligen Brennerei Koneser in fünf Galerien multimedial die Geschichte der Wodka-Herstellung auf – abschließende Kostprobe inbegriffen.

„Nicht nur wegen des Wodka-Genusses vermittelt Praga ein weiteres, ganz anderes Gesicht von Warschau“, beteuert Kasia, dass für den Stadtrundgang in Polens Hauptstadt eigentlich drei unterschiedliche Brillen vonnöten wären: eine für die Reste der mehr als 700 Jahre alten Geschichte, eine für die Zeit des Sozialismus und eine für den längst vollzogenen Aufbruch in die Moderne. Dabei weiß die überaus eloquente Blondine, dass in Warschau eigentlich nichts wirklich alt ist. Auch weil das Hitler-Regime die Stadt während des Zweiten Weltkriegs buchstäblich in Schutt und Asche zerlegte. Umso erstaunlicher, wie eindrucksvoll die Stadt aus den Ruinen wieder auferstanden ist.

Der Faszination für die Altstadt mit ihren Bürgerhäusern, den Adelspalästen und dem Schlosskomplex kann sich niemand wirklich entziehen. Jedes der wieder aufgebauten Bürgerhäuser ist einzigartig – hier Stuckaturen, dort Wandmalereien. Und obschon das Gros der Gemäuer weniger als 80 Jahre auf dem Buckel hat, wurde hier der Charme einer längst vergangenen Zeit perfekt eingefangen. Sogar dermaßen, dass das Ensemble rund um Rynek Miasto bereits im Jahre 1980, also knapp 35 Jahre nach Kriegsende, in den Status des Weltkulturerbes erhoben wurde. Auf dem autofreien Marktplatz erhebt sich auch das Denkmal der wehrhaften Warschauer Meerjungfrau. Die Frau mit dem Fischschwanz, deren Originalskulptur aus Sicherheitsgründen einen dauerhaften Platz im Historischen Museum gefunden hat, ist mit Schwert und Schild bewaffnet und gilt als Schutzpatronin der polnischen Hauptstadt.

„Einer populären Legende nach ist sie eine Schwester der berühmteren Meerjungfrau von Kopenhagen“, weiß Kasia zu berichten. Die Seejungfer soll, so die Erzählung, von der Ostsee aus die Weichsel entlang geschwommen sein und habe sich, als sie unterhalb der heutigen Altstadt eine Pause einlegte, in Warschau verliebt und fortan die Bewohner mit ihrem lieblichen Gesang betört. Heute ist die Meerjungfrau in der Millionenmetropole allgegenwärtig. Sie ziert Hauswände, Laternen, Schaufenster, Schilder und Taxen. Zudem wurden ihr am Ufer der Weichsel und auf dem Markiewicz-Viadukt weitere Denkmäler gesetzt.

Doch zurück zum Schmuckkästchen der Stadt. Von der Altstadt verbindet der sogenannte Königsweg die ehemaligen Residenzen der polnischen Könige: das Königsschloss, Łazienki Królewskie Palast und den Wilanów-Palast. An der repräsentativen Flaniermeile, die einst Schauplatz fröhlicher Krönungsumzüge, aber auch blutiger Freiheitskundgebungen war, liegen der Präsidentenpalast, in dem Chopin, im zarten Alter von sechs Jahren sein erstes Konzert gab, sowie die Warschauer Universität und beeindruckende Bürgerhäuser. Während sich in der angrenzenden ulica Nowy Swiat Restaurant an Restaurant drängt, bieten rund um die geschäftige Altstadt Dutzende Läden Bernstein, Antiquitäten und Kitsch feil.

Altstadt von Warschau

Hinter der (nachgebauten) Befestigungsanlage Barbakan steht das Geburtshaus der Chemie- und Physik-Nobelpreisträgerin Marie Curie. Und das Herz von Komponist und Musiker Fryderyk Chopin, dem wohl berühmtesten Sohn der Stadt, ruht in der nahen Heilig-Kreuz-Kirche. Getreu seinem letzten Wunsch soll seine Schwester Ludovika das Organ nach seinem Ableben heimlich von Paris nach Warschau überführt haben. Und ganz ehrlich, wer durch die polnische Kapitale streift, weiß ganz genau, warum Chopin sein Herz in Warschau verloren hat…

Allgemeine Informationen: www.warsawtour.pl/de und www.polen.travel

Alle Fotos: Karsten-Thilo Raab

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