Im Nordwesten von London können Harry-Potter-Fans an den Originaldrehorten der Filme in die eigens winterlich gestaltete Welt des berühmten Zauberschülers abtauchen.
Von Karsten-Thilo Raab
Punktueller Wintereinbruch im Nordwesten von London! Genauer gesagt in Hogwarts. Hier hat Frau Holle die Kissen kräftig ausgeschüttelt. Der Verbotene Wald ist komplett in die weiße Pracht gehüllt. Auch die Winkelgasse zeigt ihr winterliches Antlitz ebenso wie die wohl berühmteste Zauberschule der Welt, die komplett in Schnee gehüllt ist. Derweil hat die Große Halle eine festliche Verwandlung erfahren. Die endlos langen Tische sind stilvoll für das große Festmahl eingedeckt – mit gebratenen Truthähnen, knallgrünen Erbsen, mit Kirschen gespicktem Schinken und Weihnachtspuddings, deren Ränder im wahrsten Sinne des Wortes in Flammen stehen.
Neben geschmückten Girlanden und Weihnachtsbäumen runden die von der Decke hängenden Eiszapfen, eine tempelartige Eisskulptur sowie ein unsichtbares Orchester mit magischen Instrumenten das faszinierende Setting ab. Der legendäre Weihnachtsball des Trimagischen Turniers lässt grüßen. Keine Frage, „Hogwarts in snow“ weiß nicht nur eingefleischte Fans von Harry Potter in seinen Bann zu ziehen.
Die Warner Bros. Studio Tour London präsentiert an den Originaldrehorten in Leavesden eine Winterwunderwelt, deren Anblick jeden Muggel – wie Menschen ohne magische Kräfte in den von J.K. Rowling erdachten Fantasy-Abenteuern bezeichnet werden – unweigerlich verzaubert. Dabei hat der plötzliche Schneefall in den Filmstudios auf dem ehemaligen Flugplatzareal längst Tradition. Während der Dreharbeiten zu den Harry-Potter-Filme kletterte nämlich dereinst ein Mitglied der Crew auf eine erhöhte Arbeitsplattform und streute per Hand mit einem Sieb eine „Schnee-Mischung“ aus ganz feinem Papiergranulat und Salzkörnern auf das Hogwarts-Modell. Damit hielt der Winter in den riesigen Hallen des Filmstudios „offiziell“ Einzug. Seither wiederholt sich die Prozedur Jahr für Jahr am einstigen Harry-Potter-Set.
„Schnee ist hier nicht gleich Schnee. Je nach Szene musste das künstliche Gemisch mal beim Gehen unter den Schuhen knirschen, mal langsam durch die Lüfte schweben und dann wieder im Licht ein wenig funkeln“, so Evie Brown. Im gleichen Atemzug verrät die Studentin mit dem langen, glatten Haar, die dreimal pro Woche als Guide in den Warner Bros. Studios arbeitet, dass es „nach Ende der Wintersaison“ mehr als eine Woche dauert, um die Millionen von Schneeschnipsel mühevoll und vorsichtig mit kleinen Besen und Pinseln wieder von den Kulissen zu entfernen.
Für Evie ist es mehr als ein Studentenjob. Mit jedem Wort, mit jedem Lächeln schwingt ihre ansteckende Begeisterung für die Abenteuer des von Daniel Radcliffe gemimten Zauberschülers und die atemberaubenden Filmkulissen mit. Munter plaudert sie aus dem Nähkästchen und verrät den Potter-Fans und solchen, die es (noch) werden wollen, so manches offene Geheimnis aus der Filmproduktion. So etwa, dass die Betten im rundlichen Gryffindor-Schlafraum zu klein gebaut wurden. Beim ersten Film hatte offenbar niemand daran gedacht, dass die jugendlichen Schauspieler im Laufe der Zeit größer werden.
„Die Betten sind nicht mitgewachsen und das Set ließ sich nicht erweitern“, weiß Evie, dass Harry Potter & Co daher in den Folgefilmen immer so geschickt auf den Betten platziert wurden, dass dies nicht auffiel. Gerne saßen die Darsteller daher nur am Bettrand. Und weitere interessante Details sind von Evie zu erfahren: Für jeden Schauspieler und dessen Stuntdouble wurden Echthaar-Perücken gefertigt, damit nach etwaiger Drehpause mit privaten Friseurbesuch, die Darsteller vor der Kamera nicht anders aussahen. Eine spezielle Perücke erhielt der von Robbie Coltrane verkörperte Halbriese Hagrid. Dessen lockige Haarpracht wurde aus Yak-Fell gefertigt und sorgte bei dem im Oktober mit 72 Jahren verstorbenen Schauspieler für einen permanenten Juckreiz.
Im Büro von Dumbledore, dem Leiter der Hogwarts Zauberschule, schlummern ebenfalls einige Besonderheiten: Hinter sämtlichen Büchern in den Regalen verbergen sich tatsächlich ausgemusterte Telefonbücher mit einem eigens hergestellten Buchumschlag als Hülle. Alle Menschen auf den Gemälden in Dumbledores Büro schlafen, da das Setting für die Nachtzeit hergerichtet wurde. Lediglich in einem Porträt hat jemand die Augen geöffnet. Selbige kann Evie allen mit Filmtechniken nicht so vertrauten Muggeln auch mit Blick auf den Zaubermantel von Harry Potter öffnen.
„Der Umhang ist von innen grün. Das ist auf der Farbskala der Ton, der von der Hautfarbe am weitesten entfernt ist“, erklärt die Studentin, wie sich der Zauberschüler binnen Sekunden unsichtbar machen konnte. Ein Effekt, der auch beim Quidditch zum Einsatz kam. Die Darsteller saßen vor grünem Hintergrund auf ihren Besen und simulierten Flug und Spiel. Im Nachgang wurden dann die Gebäude und Landschaften digital zu den Aufnahmen hinzugefügt. Wer möchte, kann sich in Leavesden selber auf einen Besen schwingen und beim Quidditch fotografieren lassen. Auch hier wird der grüne Hintergrund dann durch eine „Original-Filmszene“ ausgetauscht.
Nahezu alle Kulissen und Requisiten, die bei der Warner Bros. Studio Tour zu sehen sind, stammen tatsächlich von den Dreharbeiten. Der Bogen spannt sich vom Hogwarts Express über das Zimmer unter der Treppe, in dem Harry Potter in Teil 1 wohnte, bis hin zum dreistöckigen Bus und dem himmelblauen Ford Anglia, von dem für die Dreharbeiten 13 ganze und ein halbes Fahrzeug verschlissen wurden. Ein Nachbau ist jedoch der Verbotene Wald.
„Der wurde nicht so oft als Kulisse benötigt und war einfach zu groß, um ihn mal eben einzulagern“, berichtet Evie weiter. Nicht originalgetreu ist zudem das Haus von Potters Pflegefamilie. Im Ligusterweg Nr. 4 (im Original: 4 Privet Drive) in der fiktiven britischen Kleinstadt Little Whinging wuchs der kleine Harry im Film bei Vernon und Petunia Dursley auf. Tatsächlich wurden die Szenen in einem Privathaus am Picket 12 Post Close in Martins Heron in Bracknell abgedreht. Da das Wohnhaus nach der Filmpremiere chronisch von Potter-Fans aus aller Welt belagert wurde, folgte der „Neubau“ auf dem Studiogelände in Leavesden.
Ein Besonderheit des Potter-Sets ist fraglos die große Liebe für noch so kleine Details. So wurden eigens für die Kulisse in dem Labor, in dem die vermeintlichen Zaubertranks hergestellt wurden, allein 900 Gläser mit kuriosen Dingen handgefüllt. Zudem wurde ein spezielles Zauberbuch mit „echten Formeln“ gefertigt. Auch unabhängig davon haben es die Macher des Harry-Potter-Universums perfekt verstanden, durch eine Mischung von digitaler Technik und prachtvollen Kulissen eine Illusion mit magischer Strahlkraft entstehen zu lassen. Der Marmor in der imposanten Bankhalle ist tatsächlich nur eine extrem aufwendige Tapete, die riesigen Lüster sind aus Plastikteilen zusammengesetzt.
„Kelche, Platten, Münzen und Schmuck in der Schatzkammer sind ebenfalls Vollplastik“, lacht Evie, wohl wissend, dass dies notwendig war, damit die Schauspieler, die über den Schatz kriechen mussten, sich nicht verletzten. Ergänzend fügt sie hinzu, dass alle Kulissen zunächst aus weißem Kanton maßstabsgetreu in Miniatur gebaut und anschließend mit einer Lippenstift großen Kamera abgefahren wurden.
„Was dabei nicht funktionierte, wurde schlicht nie gebaut“, beteuert Evie. Während für die Außenansicht von Hogwarts Elemente der Universitäten in Oxford und Cambridge, der Kathedrale von Durham und des nordenglischen Alnwick Castle als Inspiration dienten, wurde auch beim Aussehen der Schauspieler großer Wert auf jedes noch so kleine Detail gelegt. Allein fünf Stunden wurden benötigt, um Warwick Davis seine Masken anzulegen. Der gerade einmal 107 Zentimeter große Schauspieler mimte nicht nur Professor Flitwick, seines Zeichens Lehrer in Hogwarts, sondern auch den Kobold Griphook als Mitarbeiter in der Zaubererbank.
Amüsant ist auch die Tatsache, dass die Strickjacke von Arthur Weasley, die eigentlich vermeintlich aus einer Altkleidersammlung stammen sollten, tatsächlich von Versage ist. Irgendwie hat Evie immer noch mehr spannendes Wissen zu den Potter-Filmen parat. Wahrscheinlich könnte sie Bücher, so dick wie die literarischen Vorlagen von J.K. Rowling damit füllen. Nun ist aber erst einmal Zeit für ein zünftiges Butterbier im Schatten von Gleis 9 ¾ – denn genau so schmeckt das Original-Potter-Feeling…
Informationen: https://www.wbstudiotour.co.uk/de/
Anreise: British Airways (www.britishairways.com) bieten von allen größeren Flughäfen in Deutschland, Österreich und der Schweiz Direktflüge nach London-Heathrow an. Vom Londoner Bahnhof Euston geht es mit dem Zug bis zum Bahnhof Watford Junction, von dort mit dem kostenlosen Shuttlebus weiter zur Warner Bros. Studio Tour.
Alle Fotos: Karsten-Thilo Raab