Italien ist immer eine Reise wert. Weitegehend unentdeckt und besonders authentisch ist Kalabrien im Süden des „Stiefellandes“ mit seinen kontrastreichen Regionen zwischen zwei Küsten.
Von Karsten-Thilo Raab
Struppig ist gewöhnlich ein Attribut, das mit Mensch oder Tier in Verbindung gebracht wird. Ein wenig trifft die Beschreibung jedoch auch auf Kalabrien zu. Anders als viele Teile Italiens ist die Region am Fuße des Stiefels eher ungezähmt und ursprünglich – und dabei nicht immer förmlich rausgeputzt. Gleichwohl ist Kalabrien nicht weniger reizvoll als der Rest von Bella Italia – nur weniger überlaufen.
In der von Bergen und Hügeln dominierten Landschaft gedeihen vor allem Oliven und Zitrusfrüchte, aber auch eine Besonderheit: die rote Zwiebel. Die schmeckt mild, weniger scharf als normale Zwiebeln und hat eine leicht süßliche Note. Was jedoch nichts mit dem Zuckergehalt zu tun hat, sondern dem niedrigen Säuregehalt geschuldet ist. Die äußerst schmackhafte „Cipolla Rossa di Tropea“ braucht im Winter die kalte Bergluft, im Sommer die Meeresbrise und die spezielle sandreiche Bodenbeschaffenheit, um zu gedeihen.
„Unsere Zwiebeln haben einen geringen Wasseranteil“, verweist Marco Furchì auf die Tatsache, dass der permanent leichte Wind und die Trockenheit rund um das Badeparadies Tropea helfen, den Wassergehalt zu reduzieren. Der kleine, überaus sympathische Italiener erfüllt in punkto Lebhaftigkeit gängige Klischees. Wild gestikulierend, erläutert er in perfektem Englisch seine Passion für die Landwirtschaft unter zur Hilfenahme von Händen und Füßen: Bereits in dritter Generation baut der 29-jährige Landwirt die von der EU als Marke geschützten Zwiebeln an. Gerade einmal 2.500 bis 3.000 Kilogramm ergibt die Jahresproduktion auf der nur einen Hektar großen Scholle der Furchì-Familie. Ein echter Knochenjob und doch ist Marco mit Feuereifer dabei.
„Die Tropea-Zwiebel ist nicht nur bekömmlicher als normalen Zwiebeln, auch der sonst schon mal unangenehme Mundgeruch kommt bei unserer Zwiebelvariante nicht vor“, schwärmt Marco sichtlich begeistert für die „Früchte seiner Arbeit“.
In Tropea, das im Jahre 2016 nicht von ungefähr zum schönsten Dorf Italiens gekürt wurde und dass sich durch eine malerische Altstadt hoch oben auf den Klippen auszeichnet, ist die rote Zwiebel allgegenwärtig. Kaum ein Geschäft, in dem die „Cipolla Rossa“ oder Produkte aus ihr nicht angeboten werden. In der Gelati Tonino kann sogar ein spezielles Zwiebel-Eis genossen werden. Doch die Eisdiele unweit der Kathedrale Madonna die Romania am Corso Vittorio Emanuele bietet auch andere Kuriositäten im Hörnchen oder der Waffel an: Der Bogen spannt sich vom Kürbis- und Olivenöl-Eis bis hin zu Thun- und Tintenfisch-Geschmack. Varianten, die gewöhnungsbedürftig klingen, aber gleichzeitig ungewöhnliche Gaumenfreuden garantieren.
Doch nicht nur der Zwiebel- und Eisgenuss lassen Tropea zu einer überaus empfehlenswerten Station in Kalabrien avancieren. Der historische Kern der pittoresken Kleinstadt erhebt sich hoch über dem türkisblauen Tyrrhenischen Meer und dem malerischen Sandstrand. Die engen Straßen und Gassen der 6.000-Seelen-Gemeinde werden von Kirchen, kleinen Kapellen und Palazzi gesäumt. Hier und da haben die Gemäuer zugegebenermaßen schon bessere Zeiten gesehen. Doch gerade auch die bröckelnden Fassaden machen einen Teil des besonderen Charmes aus. Wer sich durch die Sträßchen treiben lässt, entdeckt hinter jeder Ecke einen schönen Blickfang und kleine Besonderheiten und schnell wird klar, warum Tropea zum schönsten Dorf in Italien gekürt wurde.
Ein ganz anderer Blick auf Tropea lässt sich bei einem Segeltörn entlang der Costa degli Die, der Küste der Götter, werfen. Dabei geht es auch unterhalb der auf einem mächtigen Felsen thronenden Wallfahrtskirche Santa Maria dell’Isola entlang zu malerischen Buchten mit glasklarem Wasser und kleinen, verträumten Stränden.
Lange Zeit war die Gegend rund um Tropea eine Art Kornkammer. Davon zeugen die Reste von nicht weniger als 26 Mühlen, die bei Wanderungen durch herrliche beschattete Waldstücke entdeckt werden können.
Jedes Paradies hat aber bekanntlich einen Stich. In Kalabrien ist dies definitiv der Zustand der Straßen, die mitunter eher an eine Marterstrecke oder ein asphaltiertes Arial für Stoßdämpfertests gemahnen. Für Rückengeplagte ist dies zweifelsohne hier und da eine Tortur. Eine Unausweichliche – zumindest dann, wenn dann Hinterland von Tropea oder das Ionische Meer auf der anderen Seite des Stiefels – oder besser gesagt, an der Fußsohle – das Ziel sind.
Vor den Toren des Örtchens San Floro findet sich eine Besonderheit. Hier haben drei junge Kalabresen das uralte Handwerk der Seidenproduktion für sich neu entdeckt und lassen sich bei der Arbeit bereitwillig über die Schultern schauen. Dabei hat die Kooperative Nido di Seta rund 3.000 Maulbeerbäume gepflanzt, um für die 60.000 Seidenraupen die erforderliche Nahrungsgrundlage zu schaffen. Jede der Larven des Seidenspinners erweist sich dabei in der Tat als eine kleine „Raupe Nimmersatt“. Für 28 Tage besteht ihr Tagwerk rund um die Uhr aus dem Fressen von Blättern, ehe sie im Anschluss damit beginnen, bis zu zwei Kilometer lange Fäden zu spinnen. Aus den als eiförmige Klumpen
abgelegten Fäden können dann hochwertige Seidenprodukte gefertigt werden. Wobei die Kooperative Nido di Seta längst zu einem der besten Herstellern des Kontinents avanciert ist, was durch die Tatsache, dass Gucci heute der Hauptabnehmer ist, eine eindrucksvolle Bestätigung erfährt.
Ein offener Geheimtipp ist zudem ein Abstecher ins wunderbar wanderbare sowie üppig bewaldete Valli Cupe. Das faszinierende Naturschutzgebiet erstreckt sich vom Herzen der Presila bis zur ionischen Küste. Gerade in der heißeren Jahreszeit bilden die Wasserfälle des Crocchio sowie die Kaskaden des Campanato und des dell’Inferno angenehm kühle wie faszinierende Naturschauspiele. Und dies mit einer ganz besonderen Luft. Denn Zagarise wurde unlängst von der EU als der Landstrich mit „der saubersten Luft Europas“ geadelt. Entsprechend stolz findet sich die EU-Bewertung gut sichtbar auf den Straßenschildern.
Dabei befand sich die bergige Region lange Zeit im Dornröschenschlaf. Erst Anfang der 2000er Jahren wurden hier die ersten Wanderwege angelegt. Eichen, Weiden, Lorbeerbäume und Kastanien säumen die schattigen Wege gut 700 Meter über dem Meeresspiegel. Zwischen den Bäumen ducken sich immer mal wieder die Ruinen von verlassenen Wirtschaftshäusern, in denen in längst vergangenen Zeiten von den armen Familien gesammelte Esskastanien über einem Feuer getrocknet wurden. Noch heute erfreut sich ein aus Kastanienmehl hergestelltes, süßliche Brot in diesem Teil Kalabriens großer Beliebtheit.
Ausgangspunkt für viele der Touren durch das Valli Cupe ist Sersale. Das Bergdörfchen hat etwas Überraschendes zu bieten: Denn lokale Künstler haben zahllose Türen der zum Teil leerstehenden Gebäude ideenreich gestaltet und so einen etwas anderen Kunstpfad geschaffen.
Die ionische Küste besticht derweil durch wesentlich größere Strände, die vor allem die Herzen von passionierten Sonnenanbetern höher schlagen lassen dürften. Allerdings – auch dies gehört zur Wahrheit – fällt das Wasser vor den kilometerlangen Stränden extrem steil ab. Das offene Meer beginnt hier unmittelbar, sodass beim Schwimmen große Vorsicht erforderlich ist. So oder so gilt: Wer das Beste von Kalabrien genießen möchte, findet zwischen den beide Küsten das Beste aus beiden Welten.
Informationen: www.italia.it und www.turiscalabria.it