Hay-on-Wye – das globale Bücherdorf

Buchgeschäfte in Hay-on-Wye
Karsten-Thilo Raab Von Karsten-Thilo Raab
8 Min. Lesezeit

Das walisische Hay-on-Wye gilt als erstes Bücherdorf der Welt und war phasenweise ein „unabhängiges Königreich“ mit Pferd als Minister.

Ganz Wales ist seit dem 13. Jahrhundert britisch. Ganz Wales? Nein, ein kleines idyllisches Dorf in der Grafschaft Herefordshire an der Grenze zu England gibt vor, ein unabhängiges Königreich zu sein. Und zwar seit dem 1. April 1977. An jenem Tag nämlich ließ sich ein gewisser Richard Booth zum König von Hay-on-Wye küren und ernannte sein Pferd zum Premierminister. Gleichzeitig sagte der Exzentriker der großen Politik den Kampf an, ernannte Freunde und Bekannte zu Ministern, proklamierte eine eigene Nationalhymne und gab eine eigene, essbare Währung aus Reispapier heraus. Was zunächst wie ein gelungener Aprilscherz anmutete, entpuppte sich als genialer Marketing-Schachzug. Denn seither ist die 1.800-Seelen-Gemeinde am nordöstlichen Rande des Brecon Beacon Nationalparks nicht zuletzt dank der Initiative von Richard Booth in aller Munde.

Buchgeschäft in Hay-on-Wye

Nach dem Studium in Oxford hatte der PR-Fachmann 1961 in der Old Fire Station in Hay-on-Wye einen kleinen Secondhand-Buchladen eröffnet, wo er gebrauchte Bücher gleich kiloweise verkaufte. Aus kleinsten Anfängen entwickelte sich nach Angaben von „King Richard“ das weltweit größte Antiquariat. Ein personifizierter amerikanischer Traum in Südwales, der schnell Nachahmer fand. Denn inzwischen tummeln sich in dem Marktstädtchen gut drei Dutzend Buchhändler, die zusammen jährlich mehr als eine Millionen Bücher verkaufen und das beschauliche Hay-on-Wye, das in zehn Gehminuten bequem durchlaufen werden kann, zur international bekannten „Stadt der Bücher“ werden ließen. Aus der verschlafenen Kleinstadt am Fuße des 676 Meter hohen Hay Bluff ist unlängst ein globales Bücherdorf geworden, das als Dorado für Bücherfreunde aus aller Herren Länder gilt – ein Mekka für Leseratten mit familiärer Flohmarktatmosphäre.

Honesty Bookshop im Hay Castle in Hay-on-Wye zu Zeiten von Richard Booth

Überall, ja, an jeder irgendwie nutzbaren Ecke finden sich heute Buchhändler – im alten Kino, in einer ehemaligen Metzgerei und bei trockenem Wetter auf den Straßen, Plätzen und Höfen. Von Richard Booth wurde dereinst auch der kuriose Honesty Bookshop initiiert. Dieser besteht aus mehreren mit Büchern vollgestopften Regalen unter freiem Himmel. Hier gibt es keine Verkäufer und keine Kasse. Der Handel mit gebrauchten Büchern läuft hier allein auf Vertrauensbasis. Wem ein Buch gefällt, der wirft das entsprechende Geld einfach in den dafür vorgesehenen Schlitz in der Wand.

Richard Booth’s (ehemaliger) Bookshop in Hay-on-Wye

Viele Buchhändler sind spezialisiert auf teure Erstausgaben, Kinderbücher, Gedichte, Krimis, Reiseliteratur oder andere Spezialgebiete. Sie bieten für Preisspannen zwischen 30 Pence und 5.000 Britischen Pfund die ganze Bandbreite vom gebrauchten Schundroman bis zu erlesenen Raritäten, von Meisterwerken der Weltliteratur bis hin zu Trivialem. Zwischen verstaubten, zerlesenen, kostbaren und weniger kostbaren Stücken fühlen sich nicht nur echte Bücherwürmer wie auf einem gewaltigen Dachboden mit längst vergessenen Schätzen.

Über allem thront(e) im wahrsten Sinne des Wortes „King Richard“, der 1983  für das britische Parlament, dann 1999 für einen Sitz in der Walisischen Nationalversammlung und 2009 für das EU-Parlament kandidierte – allerdings vergebens. Das im Jahre 2019 verstorbene Original lief ab und zu sogar mit Krone durch „sein Königreich“ und wohnte, wie es sich für einen „Monarchen“ gebührt, stilecht im normannischen Hay Castle im Herzen der Stadt.

Buchgeschäft in Hay-on-Wye

Die Burg, die als eine der größten noch erhaltenen Verteidigungsanlagen an der Grenze zwischen Wales und England gilt, wurde 1977 bei einem Feuer in Teilen zerstört. Erst im Jahre 2000 wurde das ebenfalls abgebrannte Dach erneuert, was Richard Booth nicht daran hinderte, im Erdgeschoss einen (weiteren) Buchladen zu eröffnen. Heute wird die 2022 nach aufwendiger Renovierung wiederöffnete Festung für Konzerte, Theateraufführungen andere kulturelle Aktivitäten genutzt. Zudem beherbergt das gut 900 Jahre alte Gemäuer mit der Richard Booth Collection eine besondere thematische Ausstellung, die dem „König von Hay“ gewidmet ist.

Das Kuriosum auf zwei Beinen kaufte ganze Schiffsladungen an Büchern, übernahm die Bestände aufgelöster Bibliotheken und Privatsammlungen, um diese in seinen Läden zu verramschen. Daneben betätigte sich Richard Booth als eine Art Entwicklungshelfer, der wenig beachteten Orte in anderen Ländern mit Rat und Tat bei den Bemühungen, von einem unbedeutendem Fleckchen Erde zu einer Touristenattraktion zu werden, zu Seite stand. Und so finden sich heute Buchdörfer in den USA, in Malaysia, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Deutschland, wo Mühlbeck-Friedersdorf östlich von Bitterfeld versucht, das Erfolgsrezept aus der walisischen Kleinstadt zu kopieren.

Ladenlokal in Hay-on-Wye

Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Richard Booth, dessen 1999 erschiene Autobiographie passender Weise den Titel „My Kingdom of Books“ (Mein Königreich der Bücher) trägt,  im Jahre 2009 Konkurrenz aus den eigenen Reihen bekam: Sein ehemaliger Mitarbeiter Paul Harris, der sich mit einem eigenen Buchladen in Hay-on-Wye selbständig gemacht hatte, gründete sein eigenes „Commonwealth“ als vermeintliche Verbindung souveräner Staaten und ernannte sich selbst zum „Ersten Minister“. Zudem zettelte Harris einen „Aufstand“ gegen den „König“ an, der in einem (Schau-) Prozess wegen Hochverrat und schließlich in einer  symbolischen Enthauptung von Richard Booth gipfelte.

Honesty Bookshop in Hay-on-Wye

Einer der Gründe war, dass Paul Harris der Meinung war, dass das von Richard Booth initiierte Hay (Book) Festival zwar punktuell Massen an Besucher in diesen Teil von Wales bringen würde, aber die Buchhändler abseits des Festivals unter zu geringer Resonanz leiden würden. Vor Einführung der Veranstaltung hätten die Buchgeschäfte fast 50 Prozent mehr Umsatz verzeichnet, was für Harris und seine Gefolgsleute alles andere als „königlich“ war. Und so stieg tatsächlich am 27. September 2009 die öffentliche Enthauptung von Richard Booth auf dem alten Buttermarkt, wo der (falsche) Kopf des „Königs“ unter dem Jubel der Harris-Treuen abgeschlagen wurde und symbolisch in einen Heimat rollte.

Getreu dem Motto „Der König ist tot. Es lebe der König“ findet das Hay Festival übrigens weiterhin statt – in diesem Jahr vom 22. Mai bis 1. Juni 2025. Dann wird Hay-on-Wye wie zu Zeiten von Richard Booth wieder zum Mekka der Bücherwelt, wenn literarische Größen aus ihren Werken lesen und sich an Diskussions- beziehungsweise Vortragsreihen beteiligen.

 www.hay-on-wye.co.uk

Hay Festival: www.hayfestival.com

Hay Castle: www.haycastletrust.org

Alle Bilder: Karsten Thilo Raab

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Karsten-Thilo Raab ist freier Reise-Journalist, Autor und Fotograf für eine Vielzahl von Zeitungen, Magazinen und ist immer wieder auch für uns tätig. Zudem hat er als Autor bislang mehr als 120 Bücher verfasst bzw. an diesen mitgewirkt.