Eriwan: Das pulsierende Herz Armeniens

Botero-Skulptur und Kaskade in Eriwan
Karsten-Thilo Raab Von Karsten-Thilo Raab
16 Min. Lesezeit

Armeniens Hauptstadt Eriwan blickt auf eine 2.800 Jahre alte Geschichte, kann aber vor allem das Sowjet-Erbe nicht verleugnen.

Es ist schon kurios, dass eine Stadt vor allem für etwas berühmt ist, das es gar nicht gibt: einen fiktiven Radiosender. Die etwas älteren Semester werden sich noch an den Kalten Krieg und die Zeit vor dem Zerfall der Sowjetunion erinnern. In jenen Tagen hatten Radio-Eriwan-Witze Hochkonjunktur – und immer nach demselben Muster: „Frage an Radio Eriwan…“ gefolgt von der Antwort im Running-Gag-Format: „Im Prinzip ja, aber…“ Die mehr oder weniger lustigen Witze, die sich vornehmlich an den Systemunterschieden zwischen westlichen und sozialistischen Staaten rieben, waren eine Art politischer Karikatur in Wortform.

Bahnhof in Eriwan

Die Witze sind größtenteils längst in Vergessenheit geraten beziehungsweise nicht mehr zeitgemäß. Geblieben sind aber in Eriwan die Spuren aus der Zeit der Sowjetunion. Insbesondere außerhalb des Zentrums der armenischen Hauptstadt ragen scheußliche wie gesichtslose Wohnblocks in Form von Plattenbauten gen Himmel.

„Eriwan war einst ein wichtiger Handelsplatz an der legendären Seidenstraße“, blättert der Armenien-Experte Aramayis Mnatsakanyan, der von allen schlicht Aram genannt wird, ein wenig verbal im Geschichtsbuch des kleinen vorderasiatischen Landes. Gleichzeitig weist der 42-jährige nicht ohne Stolz darauf hin, dass die Geschichte der Stadt rund 2.800 Jahre zurückreicht.

Ruine der Festung Erebuni

Als Keimzelle und Geburtsstätte der heutigen armenischen Hauptstadt gilt die im Jahre 782 vor Christus errichtete Festung Erebuni. Daraus abgeleitet wurde der heutige Name der mit 1,2 Millionen Einwohnern größten und wichtigsten Stadt des Landes. Von der auf einem Hügel liegenden Festung sind heute im Wesentlichen nur noch rekonstruierte Mauerteile erhalten. Von dem historisch bedeutsamen Ort gibt es ein herrlichen Panoramablick auf Eriwan, aber auch auf die mächtigen Berge Ararat (5.137 Meter) und Aragaz (4.090 Meter).

„Nicht weniger als 14 Mal wurde Eriwan im Laufe seiner langen Geschichte zerstört und wieder aufgebaut“, weiß Aram weiter zu berichten. Der Vater zweier Töchter, der mit einer Deutschlehrerin verheiratet ist, ergänzt, dass noch im 18. und 19. Jahrhundert viele Häuser schlicht aus Ton, Lehm und Holz errichtet waren. Deshalb nannte der russische Zar Eriwan auch schlicht den „Tontopf“.

Plattenbauetn In Eriwan

Im Stadtteil Kond mit seinen bis zu 250 Jahre alten Häusern lässt sich noch heute ein ursprüngliches Stück Eriwan erleben und entdecken. Die Straßen und Gassen sind hier extrem verwinkelt, nicht planerisch angelegt, sondern komplett wild gewachsen und erinnern an ein weitläufiges Labyrinth, in dem nur die streunenden Katzen sicher ihren Weg zu finden scheinen.

Obschon sich ansonsten noch immer viele Gebäude aus sozialistischer Zeit in Eriwan befinden, erlebte die armenische Kapitale am Rande der Ararat-Ebene nach Beendigung des Ersten Weltkriegs eine grundsätzliche Neuordnung. Architekt Alexander Tamanyan (1978-1936) entwickelte im Jahre 1924 am Reißbrett den Generalplan für eine moderne Stadt mit vielen Grünanlagen für bis zu 200.000 Menschen. Einiges davon wurde in den Folgejahren entsprechend umgesetzt. Unter russischer Macht blieben viele Vorhaben aber auch unvollendet. Stattdessen schossen unansehnliche Plattenbauten wie Pilze aus dem Boden.

Regierungssitz am Platz der Republik

Gleichwohl ist Tamanyans Handschrift zumindest in der Innenstadt bis heute klar erkennbar.  So wurde im  20. Jahrhundert der zentrale Platz der Republik ab 1926 Schritt für Schritt umgestaltet. Es entstanden rund um den riesigen Kreisverkehr einige halbrunde Prachtbauten. Heute finden sich hier der Sitz der Regierung, die Zentralpost und die nationalen Museen, während das ehemalige Außenministerium aktuell leer steht. Die meisten Gebäude bestehen aus dem markanten rosafarbenen Tuffstein, den Temayan gerne verbauen ließ.

Museumskomplex am Platz der Republik

Die Nationalgalerie am Platz der Republik ist heute ein Mekka für Kunstliebhaber. Mehr als 22.000 Werke nationaler und internationaler Künstler – vor allem aus dem 12. bis 16. Jahrhundert – sind unter ihrem Dach ausgestellt. Vor dem Museum finden nach Einbruch der Dunkelheit bei freiem Eintritt imposante, musikalisch umrahmte Wasserspiele statt.

Auch die Achse von der Oper bis zur berühmten Kaskade trägt die Handschrift Tamayans, dem in dem kleinen Park am Fuße der Kaskade im wahrsten Sinne des Wortes ein Denkmal gesetzt wurde. Fast scheint es so, als würde er dort über den Schreibtisch gebückt stehen und noch heute über die Pläne für die Neugestaltung nachdenken. Und das an einem Ort, an dem sich heute die teuersten Wohnungen und besten Restaurants von Eriwan befinden. Die 118 Meter hohe und 50 Meter breite Kaskade, deren Bau in den 1970er Jahren begann, wurde nie ganz fertiggestellt, was aber von unten niemand bemerkt.

„Nach dem schweren Erdbeben im Jahre 1988 und dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahre 1991 wurden die Arbeiten an der obersten Stufe vorübergehend eingestellt – bis heute“, weiß Aram zu berichten.

Kaskade in Eriwan

Bei einem Steigungswinkel von 15 Grad beträgt die Distanz vom Fuß bis zur Spitze des Treppenkomplexes stolze 302 Meter, was der Länge von gut drei Fußballfeldern entspricht. Die insgesamt fünf Plattformen verfügen jeweils über separate Ausstellungshallen. Erschlossen werden diese über insgesamt 572 Stufen.

Tamayan wollte an dieser Stelle eigentlich einen künstlichen Wasserfall errichten lassen, der sich am höchsten Hügel der Stadt ergießen sollte. Der Plan geriert jedoch über Jahrzehnte in Vergessenheit. Architektenkollege Jim Torosyan stieß schließlich in den 1960er Jahren auf den ursprünglichen Entwurf und entwickelte diesen weiter. Ab 1971 wurde der Komplex dann nach und nach aus hellem Travertinstein angelegt, bis die Naturkatastrophe und der politische Umbruch den Bauarbeiten ein jähes Ende setzten.

Somit ist die fünfstufige Kaskade, das wohl populärste Fotomotiv der Stadt, so etwas wie die Unvollendete. In dem kleinen Park zu ihren Füßen sorgt eine Skulpturensammlung für ungewöhnliche Blickfänge. Neben einem Tiger aus Altreifen, einem „Metall-Piraten“ mit zwei Holzbeinen und zwei Säbeln sowie einer gigantischen Teekanne fallen besonders drei riesige Skulpturen des kolumbianischen Bildhauers Fernando Botero ins Auge.

Kurioses Gefährt in Eriwan

Augenfällig sind rund um den liebevoll angelegten Park zudem zwei weitere Dinge: Eine Frau fegt mit einem Reisigbesen die Gehwege, auf den weder Müll noch Zigarettenkippen herumliegen, obwohl gefühlt jeder zweite Armenier raucht. Eine Szene, die sinnbildlich dafür steht, wie sauber Eriwan ist. Noch auffälliger ist die nicht enden wollende Blechlawine, die sich vor allem in den Morgen- und Abendstunden im Schneckentempo durch die Straßen der armenischen Hauptstadt schiebt.

„Tamanyan hatte eine Stadt für 200.000 Menschen geplant, heute leben hier sechsmal so viele“, verweist Aram auf die Tatsache, die Breite der Straßen ebenfalls für viel weniger Verkehr ausgelegt waren. Die Bewohner der Millionenstadt haben sich längst an das quälend langsame Vorankommen gewöhnt. Bauliche Lösungen wie Tunnel und Umgehungsstraßen scheitern am fehlenden Platz und fehlendem Geld. Hinzu kommt, dass Parkplätze in einigen Teilen der Innenstadt rar sind wie Schnee im August. Da hilft auch nicht, dass, wer in der Innenstadt parken will, umgerechnet 400 Euro im Jahr für eine Dauerparkberechtigung  bezahlen muss.

„Doch diese garantiert nicht, dass es auch einen freien Stellplatz gibt“, schüttelt Aram angesichts der fragwürdigen Regelung den Kopf. Die Enge der Straßen erlaube auch nicht  Bus- noch Radtrassen anzulegen.

„Und Radfahren in Eriwan ist angesichts des Verkehrs und des Fahrstils meiner Landsleute absoluter Selbstmord“, sagt Aram, wohl wissend, dass es in Eriwans Innenstadt nur ganze 120 (!) Meter Radweg an der Oper gibt. Neue Radwege sind perspektivisch nicht geplant. Daher bleibt die Nutzung der Straßen von Eriwan vor allem eines: ein Geduldsspiel.

„Wir haben einfach zu wenig Straße für zu viele Autos“, lacht Aram, der selber  jeden Tag 36 Kilometer aus einem Vorort mit dem Auto anreist, ein wenig gequält. Nicht selten benötigt er für die Strecke anderthalb Stunden oder mehr.

Linienbusse und die Marschrutkas, jene beliebten kleinen Sammelbusse, die im Zehn-Minutentakt verkehren, sind vor allem für Berufspendler keine Alternative. Ebenso wenig die U-Bahn, da es lediglich eine Linie mit einem knappen Dutzend Haltepunkten gibt. Für Besucher der Stadt sind die Busse jedoch eine durchaus attraktive Möglichkeit von A nach B zu kommen, da jede Fahrt, egal wie viele Haltepunkte dazwischen liegen und wie lange die Fahrt dauert, immer 100 Dram kostet, was etwa 0,24 Euro entspricht.

Siegespark mit Mutter Armenien Skulptur

So lohnt sich zum Beispiel die Fahrt zum etwas außerhalb gelegenen Siegespark. Weithin sichtbar thront dort auf einem monumentalen, 36 Meter hohen Sockel „Mutter Armenien“, die als Symbol der Hauptstadt gilt. Lange stand an dieser Stelle das Denkmal Josef Stalins. Nach dem Tod des Diktators wurde die Figur 1962 abgebaut und eingeschmolzen und 1967 durch die Frauenfigur ersetzt.

Die 24 Meter aufragende Statue mit dem Schwert in den Händen blickt schützend auf die Stadt und auf den Berg Ararat. Sie symbolisiert dabei auch, dass Eriwan – wie bereits erwähnt – im Laufe seiner langen Geschichte immer wieder zerstört wurde. Das Kreuz wiederum, das mit dem querliegenden Schwert angedeutet wird, steht für die Bereitschaft, das Land jederzeit zu verteidigen.

Stalin-Orgel im Siegespark

Im Siegespark stehen, für einige durchaus etwas verstörend, viele ausgemusterte Militärgerätschaften angefangen von einer MIG über Panzer und Raketen bis hin zur Stalin-Orgel als stilles Gedenken an gewalttätige Auseinandersetzungen, die Weltkriege und das Wettrüstens während des Kalten Krieges. Wie zum Hohn grenzt direkt an die Mutter-Armenien-Figur und das ihr zu Füßen liegende Waffenarsenal ein Vergnügungspark mit einem nachts bunt illuminiertem Riesenrad.

Zu den wenigen ansehnlichen Relikten aus der Sowjetzeit gehört der Bahnhof nebst dem monumentalen Reiterdenkmal auf dem Vorplatz. Neben Verbindungen in die anderen Regionen des Landes startet an dem zentralen Haltepunkt die einzige internationale Bahnverbindung Armeniens  – und zwar nach Tiflis im benachbarten Georgien.

Metzger im Gum

Direkt angrenzend an den Bahnhof wird jeden Tag bis circa 11 Uhr der ungewöhnlichste Basar Eriwans abgehalten, bei dem die meisten Händler ihre Waren direkt aus einem Kofferraum heraus verkaufen. Alternativ lohnt ein Besuch der von außen schmucklosen Markthalle, im Volksmund „Gum“ genannt. Diese hat täglich geöffnet. Im Untergeschoss wird fangfrischer Fisch in Aquarien angeboten, im vorderen Teil der großen Halle sind es vor allem getrocknete Früchte, Obst und Gemüse. Im hinteren Teil stehen Schuhe und Kleidungsstücke auf der oberen Ebene und Fleisch, Wurstwaren und Käse auf der unteren Ebene zum Verkauf. Nahezu alle Händler bieten bereitwillig Kostproben ihrer Produkte an, ohne dabei in irgendeiner Form aufdringlich zu sein.

Weinblätter in Plastikflaschen

Ein Kuriosum: die in Armenien so beliebten Weinblätter werden in Plastikflaschen verkauft, weil sie sich angeblich darin länger halten und frisch bleiben. Die wahlweise mit Fisch oder Fleisch gefüllten Weinblätter, Tolma, genannt, gehören zu den ewig jungen Klassikern der armenischen Küche und stehen in allen (traditionellen) Restaurants ganz oben auf der Speisekarte. Nicht minder beliebt sind Khinkali, gefüllte Teigtaschen aus Weizenmehl, oder armenische Nudeln. Letztere werden erst in der Sonne getrocknet, dann gekocht und in Öl angebraten, wobei der Teig nur aus Wasser, Mehl und Salz besteht. Doch angesichts der überaus üppigen Vorspeisen mit frischen Salaten, (eingelegtem) Gemüse, verschiedenen Käsesorten und dem zum immateriellen Weltkulturerbe der Menschheit gehörenden Fladenbrot, dem Lavash, bedarf es eigentlich keiner Hauptspeise. Zumal zum Nachtisch noch kleine Kalorienbomben wie Gata, ein Gebäck aus Weizenmehl, gereicht werden.

Armeeeenische Vorspeisen

Zum Essen gönnen sich die Armenier traditionell einen Wodka oder Schnaps. In Eriwan kommt ein Ararat-Cognac auf den Tisch. Der seit dem Jahre 1887 aus Trauben hergestellte Brandwein ist ein Exportschlager und wird in rund 50 Ländern rund um den Erdball vertrieben. Wobei Russland der Hauptabnehmer ist.

Ararat Cognac (Branndwein)

„Cognac ist eigentlich eine geschützter Bezeichnung für Brandweine aus der gleichnamigen Region in Frankreich“, erläutert Ararat-Mitarbeiterin Lusine Lalayan. Gleichzeitig räumt sie ein, dass ihr Arbeitgeber mit Blick auf die Bezeichnung eine durchaus kreative Lösung gefunden habe. Auf Englisch wird der Brandwein als „Brandy“ feilgeboten, auf Armenisch und Kyrillisch steht jedoch Cognac auf dem Etikett.

„Brandy trinkt man nicht. Man genießt ihn in kleinen Schlückchen“, hat die 54-jährige, die lange in Hamburg lebte, noch ein paar Genusstipps parat. So sollte das tulpenförmige Glas mit dem Ararat darin unbedingt vor dem Trinken in der Handfläche ein wenig angewärmt werden, damit er das optimale Aroma verbreitet. Der erste Schluck soll dann für einen Moment den Gaumen umkreisen, dadurch würde sich die dezente Haselnuss- und Eichennote bestens entfalten.

„Mein Tipp: aus einem Pfirsich oder einer Aprikosen den Kern entfernen und ein wenig Brandy in die Mulde gießen und anschließend langsam trinken“, verspricht Lusine einen besonderen Trinkgenuss. Dann hebt sie lächelnd das Glas und ruft: „ So schmeckt Eriwan. Genats! Prost!

Allgemeine Informationen: www.armenia.travel/de

Alle Bilder: Copyright Karsten-Thilo Raab

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Karsten-Thilo Raab ist freier Reise-Journalist, Autor und Fotograf für eine Vielzahl von Zeitungen, Magazinen und ist immer wieder auch für uns tätig. Zudem hat er als Autor bislang mehr als 120 Bücher verfasst bzw. an diesen mitgewirkt.