Inmitten des 1.436 Quadratkilometer große North York Moors Nationalparks verläuft der wohl schönste und vielfältigste Weitwanderwege der britischen Inseln: der 1969 eingeweihten Cleveland Way.
Von Karsten-Thilo Raab
Der Wind bläst unaufhörlich. Für einen Moment verdunkeln schwarze Wolken den Himmel, Regentropfen prasseln nieder. Sekunden später reißt die dichte Wolkendecke ein wie Seidenpapier. Die Sonne taucht das Meer in gleißendes Licht, färbt das wild tosende Wasser in leuchtendes Grün. Ein Regenbogen schlägt seinen Halbkreis über die pittoreske Moorlandschaft. Haushohe Wellen werfen sich donnernd den steilen Klippen entgegen. An den Felsen zerstäuben sie zu winzigen Wassertropfen. Hier in den North York Moors, der größten Heide- und Moorlandschaft Englands, ist es nichts Ungewöhnliches, alle vier Jahreszeiten binnen weniger Stunden zu erleben. Dabei zeichnen die Launen des Wetters mit wechselndem Lichteinfall ein bezauberndes Bild von der landschaftlichen Vielfalt in Yorkshire.
Im Westen durchziehen bewirtschaftete Täler, die Dales, im Osten wechseln steile Klippen mit ruhigen Buchten und malerischen Stränden. Durchkreuzt wird der 1.436 Quadratkilometer große North York Moors Nationalpark von einem der wohl schönsten Wanderwege der britischen Inseln: dem 1969 eingeweihten Cleveland Way. Auf einer Länge von 175 Kilometer verbindet dieser hufeisenförmig die ungemein abwechslungsreiche Landschaft zwischen Helmsley, Whitby und den Seebädern Scarborough und Filey.
Auch ungeübte Wanderer können den gut ausgeschilderten Cleveland Way bequem in neun bis zehn Tagen auf Schusters Rappen bewältigen. Startpunkt für die Tour durch den Nordosten Englands ist das Marktstädtchen Helmsley. Neben der normannischen All Saints Kirche stechen hier besonders die Ruinen von Helmsley Castle ins Auge. Erste Station entlang des Cleveland Ways ist dann Rievaulx Abbey. Die Abtei wurde im 12. Jahrhundert gegründet. In ihrer Blütezeit lebten hier 140 Ordensgeistliche und 160 Laienbrüdern bewohnt. Obwohl inzwischen stark verfallen, ist die Klosterkirche noch immer ein imposantes Bauwerk. Teile des ursprünglichen Fliesenbodens sind ebenso erhalten wie die Bühne des Hochaltars, die Ruinen von fünf Kapellen und die Sakristei.
Weiter geht es via Cold Kirby nach Kilburn, wo die Werkstätten des als „Mouseman“ bekannten Schreiners Robert Thompson angesiedelt sind. Thompson trug diesen Spitznamen durch seine Angewohnheit, stets eine kleine Maus in seine handgefertigten Eichenmöbel einzuarbeiten. Die kleinen Mäuse sind in ganz Yorkshire anzutreffen, vor allem in Kirchen, aber auch an Tischen und Stühlen in Pubs und Restaurants.
Ebenso bekannt ist das Dörfchen für sein weithin sichtbares weißes Pferd. Kilburns Schuldirektor John Hodgson soll mit Hilfe seiner Schüler Mitte des 19. Jahrhunderts die Umrisse des 96 Meter langen und 70 Meter hohen Pferdes in den Fels gehauen haben. 1857 machten sich dann 30 Freiwillige daran, die Oberfläche zu entfernen und mit Kalkstein zu überziehen.
Vorbei am Besucherzentrum Sutton Bank, dem westlichsten Zipfel des Cleveland Ways, führt ein Höhenweg durch wilde Wiesen entlang des Vale of York zum Sneck Yate. Rund 150 Meter unterhalb des Weges liegt der mehr als 10.000 Jahre alte Gormire Lake, der einzige natürliche See in der North York Moors, der von den spektakulären Whitestone Cliffs überragt wird.
Durch die Hambleton Hills schlängelt sich der Cleveland Way via Osmotherley durch das Urra Moor zum weithin sichtbaren Roseberry Topping.
In Saltburn-by-the-sea, dem nördlichsten Punkt des Cleveland Ways, zeigt der abwechslungsreiche Wanderweg ein neues Gesicht. Von dem einstigen Schmuggler-Nest mit seinem markanten Pier im Stile bekannter englischer Seebäder führt der Pfad über weichen Boden vorbei an Port Mulgrave, Staithes und der pittoresken Runswick Bay, die seit 600 Jahren ein beliebter Tummelplatz der Fischer ist, nach Whitby. Rund um den engen Hafen, von dem einst Kohlefrachter und Walfänger ausliefen, schmiegen sich an beiden Seiten der Mündung des River Esk mit rotem Ziegel gedeckte Häuser in die Hügel.
Auf den berühmten 199 Steps erreichbaren Klippen am Südufer des Esk befinden sich die Ruinen der Whitby Abbey. Die imposante Ruine der Benediktiner-Abteikirche ragt fast geisterhaft auf einer Landzunge in die Nordsee. Sie ist alles, was von einem der ältesten und einst reichsten Klöstern Nordenglands übriggeblieben ist.
In der benachbarten Pfarrkirche St. Mary, die durch eine kuriose Mischung aus Stilen des 17. bis 19. Jahrhunderts besticht, soll Graf Dracula in dem gleichnamigen Schauerroman von Bram Stoker erstmals englischen Boden betreten haben. Dracula soll den Tag im Grab einer Selbstmörderin verbracht haben und stellte nachts der mutigen Heldin Lucy nach.
Von Whitby führt der Cleveland Way über Klippen, Wiesen und Felder nach Robin Hood‘s Bay, wo sich zwischen steil abfallenden Felsen Steinhäuser an verwinkelte Gassen schmiegen. In Ravenscar, wo 200 Meter über der tosenden Brandung im 5. Jahrhundert ein römisches Fort stand, erhebt sich das Raven Hall Country House Hotel auf der prominenten Anhöhe. Das Herrenhaus war 1774 für den Industriellen Williams Child erbaut worden. Sein Enkel, der spielsüchtige Reverend Richard Willis, soll Raven Hall dann 1840 bei einem Kellerassel-Rennen an William Hammond verloren haben. Und dieser William Hammond hatte eine Vision: Er wollte Ravenscar in einen Ferienort für die Schönen und Reichen mit schmucken Häusern. Dazu sollte die Siedlung mit der Bahnlinie von Scarborough nach Whitby verbunden werden und einen unterirdischen Bahnhof erhalten, um die landschaftliche Schönheit nicht zu zerstören. Drei Monate vor der Fertigstellung der Bahnverbindung im Jahre 1885 verstarb William Hammond. Nach dem Tod seiner Frau im Jahre 1890 wurde schließlich das gesamte Vorhaben begraben.
Von Ravenscar führt der Küstenweg vorbei am Burniston Wyke, wo Dinosaurier im Sandstein gut sichtbar ihre Spuren hinterlassen haben, nach Scarborough, das im Kontrast zu den winzigen Dörfern, die sich entlang der steilen Küste in enge Buchten schmiegen, steht. Das traditionsreiche viktorianische See- und Thermalbad verfügt über zwei Sandstrände zwischen denen sich hoch oben auf einer Klippe die Ruinen des Castles aus dem 12. Jahrhundert erheben.
Am Fuß der Burg steht die normannische St. Mary‘s Church aus dem 12. Jahrhundert, auf deren Friedhof die englische Schriftstellerin Anne Brontë (1920-1849) begraben liegt. Von Oliver‘s Mount, einem Mahnmal für die Weltkriege am südlichen Strand, bietet sich ein faszinierender Blick auf Scarborough und auf Teile des Cleveland Ways, der im knapp 13 Kilometer entfernten Badeort Filey endet.
Informationen: www.nationaltrail.co.uk/en_GB/trails/cleve land-way
Alle Fotos: Karsten-Thilo Raab