Ein bisschen Adrenalinkick gefällig? Das können Wagemutige auf Torontos CN-Tower in 356 Metern Höhe erleben. Das Zauberwort heißt Edgewalk und ist einzigartig auf dem amerikanischen Kontinent.
Von Roswitha Bruder-Pasewald
„Das ist eure letzte Chance“: Michael, der junge Kanadier, klingt todernst- dabei möchte er nur, dass sich seine sechs Schützlinge von allem Störenden befreien. Was da wären: Armbanduhren, Ohrringe, selbst das Papiertaschentuch im Hosensack. Der halben Truppe ist schon längst das Herz in die Hose gerutscht, angesichts des Blicks nach oben zu Torontos Landmarke, dem 553 Meter hohen CN-Tower. Die Videos und Bilder, die einige zur Einstimmung auf das anstehende Unterfangen konsumiert haben, haben auch nicht zur Senkung des Blutdrucks beigetragen. Der ist in den vergangenen Minuten sicherlich in gefährliche Höhen geschnellt, angesichts all der Vorbereitungen, die signalisieren: Es wird ernst. Doch wer will sich schon als Hosenschisser outen. Was Brian May, Jada Pinkett Smith, Richard Branson und zigtausend andere Normalsterbliche geschafft haben – darunter eine rüstige 90-Jährige, die sich den „Ausflug“ zum Geburtstag schenken ließ -, geschafft haben, kann doch eine echte Badenerin nicht aus den Latschen kippen. Also rein in den knallig roten Overall, das gelbe Klettergeschirr festzurren und 116 Stockwerke hinauf – zum Edgewalk in 356 Metern Höhe am höchsten Bauwerk der westlichen Hemisphäre, das 1995 in die Liste der Sieben Neuen Weltwunder aufgenommen wurde.
Werbestrategen haben den halbstündigen „Spaziergang“ über den knapp eineinhalb Meter breiten Sims als „Next-Level-Thrills“ gepriesen – was man mit dem ultimativen Kick für Adrenalinjunkies übersetzten könnte. Nur dass man zum Adrenalinjunkie geboren sein muss. Die beiden Amerikaner aus der sechsköpfige Gruppe kann offenbar nichts schocken, doch im Kreis der Vier Deutschen – zwei Herrschaften fortgeschrittenen Alters, eine erfahrene Bergsteigerin und ein sportlicher Jungspund -, macht sich langsam Panik breit angesichts der Zugbänder und Drahtseile, an denen in der nächsten halben Stunde das eigene Leben hängen wird. Das Wetter will auch nicht so richtig mitspielen bei diesem Nervenkitzel: Es ist lausig kalt hier oben, es nieselt fies und zu allem Überfluss pfeift ein ordentlicher Wind um das Symbol der kanadischen Nation. Sarah, eine Art Drill Instructor mit blonden Gretchenzöpfen, versucht alles, den Ängstlichen eine doppelte Portion Mut einzuimpfen. Immerhin gibt es den etwas anderen Panoramaspaziergang über den Dächern der 2,9-Millionen-Metropole schon seit über einem Jahrzehnt. Vor Corona waren es bis zu „50.000 Edgewalker“ im Jahr und auch an diesem Tag sind alle Touren ausgebucht. „Es ist noch nie etwas passiert“ betont Sarah, wobei sie das Wort Absturz tunlichst umgeht. Aber bekanntlich gibt es bei allem das erste Mal. So kurz vor dem Ziel das Handtuch werfen, will man aber auch nicht, zumal Sarah und ihr Team die Zuverlässigkeit in Person zu sein scheinen. Jeder Karabiner wird vier-, fünfmal geprüft, jedes Geschirr stets aufs Neue auf richtigen Sitz begutachtet. „Ihr macht nur, was ihr möchtet“, betont die junge Kanadierin, die früher in einem Restaurant gejobbt hat. Sie habe noch nie jemanden erlebt, der im letzten Moment gekniffen habe, erklärt sie mit strahlendem Lächeln – was den Druck auf die eigenen Schultern nochmals erhöht. Denn auch da gilt: Man möchte nicht die Erste sein.
Erbaut wurde der Fernsehturm, der wie ein überdimensionierter Spargel aus den Wolkenkratzern des Financial Districts herausragt, Anfang der 1970er Jahre. Als der Sendemast nach 40-monatiger Bauzeit fertig war, wurde er schnell zum Schauplatz aller möglichen Aktivitäten. Freeclimber kletterten am Fahrstuhlschacht empor; Filmemacher – vorwiegend aus den USA – nutzten den Turm für waghalsige Stunts; Greenpeace-Aktivisten machten hier auf den Klimawandel aufmerksam. 2015 sprangen zwei französische Basejumper von der Spitze des Fernsehturms. Der Allgegenwärtige hat es auf Briefmarken und Münzen geschafft und ist das bevorzugte Objekt der Gewitterforschung – schließlich wird er jedes Jahr durchschnittlich von 75 Blitzen getroffen.
Für Toronto, Mittelpunkt der „Golden Horseshoe“-Region mit über neun Millionen Einwohnern, ist der CN-Tower der touristische Hotspot. Schon am frühen Morgen strömen die Touristen, um in sagenhaften 58 Sekunden im Panoramaaufzug lautlos nach oben zu schweben. Sie drücken sich die Nasen am Glas der Aussichtsplattform platt. Sie speisen im nicht ganz billigen rotierenden Gourmettempel und erfreuen sich am gut bestückten Weinkeller, der vom Guinness Buch der Rekorde 2006 zum höchstgelegenen der Welt gekürt wurde. Die Zeitkapsel, eingelassen in die Wand unterhalb der Aussichtsplattform und bestückt mit Briefen kanadischer Schulkinder, Tageszeitungen, Münzen sowie einem Video über die Konstruktion des Sendemastes – bleibt allerdings verschlossen. Dieses Archiv soll exakt 100 Jahre nach der Einweihung des Turm am 1. Oktober 2076 geöffnet werden. Zweimal im Jahr können ganz Verrückte sogar das Treppenhaus mit seinen 1776 Stufen nehmen: Die Teilnahmegebühren der 20.000 Läufer kommen einem guten Zweck zu Gute.
Ein Treppenhaus als Fluchtweg würde sich jetzt auch einige aus Sarahs Gruppe wünschen. Bisher war alles Vorgeplänkel. Jetzt geht es ans Eingemachte. Schon bei den ersten Schritten hinaus auf das Metallgitter ohne Geländer, rutscht das Herz eine weitere Etage tiefer. Die Füße kleben an dem Sims, die Hände sind schweißnass, die Nackenhaare gestellt. Fast krampfhaft klammert sich der Blick am Lake Ontario fest, der von hier oben wie ein endloses, graues Tischtuch wirkt. Nach unten mag der Wagemutige gar nicht blicken, denn die gigantischen Wolkenkratzer sind zu Spielzeuggröße geschrumpft – wie Zutaten für Little Canada, das Miniaturwunderland in der Dundas Street, wo Klein und Groß in wenigen Schritten durch Toronto, Ottawa und Québec spazieren können. An schönen Tagen soll man von hier oben sogar die Gischtfahne der Niagara Fälle sehen können, doch der grauverhangene Himmel verschluckt die Außenbezirke der Stadt. Stattdessen gibt es Einblicke in das Leben von Downtown. Weiß-grün gestrichene Züge rollen in der Union Station mit ihrem säulengeschmückten Haupteingang ein. An der Waterfront legen die Fähren zu den vorgelagerten Inseln ab, die ein grüne Oase mitten in der Stadt sind. Gleich daneben ist die schneeweiße Muschel des Rogers Centers zu erkennen, wo die Blue Jays aus der Baseball-Major-League um Punkte kämpfen und Justin Bieber seine vorwiegend weiblichen Fans zum Kreischen bringt.
Dass es nicht bei der bloßen Umrundung des Turmes bleiben wird, war zu befürchten – schließlich geht in Nordamerika kein Event ohne große Show über die Bühne. Von Trockenübungen scheint Sarah nicht viel zu halten, schließlich lehnt sie sich tagein, tagaus ein gutes Dutzend Mal furchtlos über die Kante – mal in Rückenlage, mal mit dem Gesicht zum Abgrund. Also runter in die Knie, mit halbem Fuß über die Kante rutschen und sich gemütlich aufrichten, um über dem Abgrund zu schweben. Die beiden Amerikaner scheinen in ihrem Leben nie etwas anderes gemacht zu haben, und auch die Bergsteigerin aus deutschen Gefilden lässt sich bequem in den gestrafften Gurt zurückfallen. Der Rest der Truppe belässt es bei der Annäherung und beim obligatorischen Winke-Winke.
Der Beweis für die mutige Großtat können sich die sechs Heroen anschließend am Ticketschalter abholen – Fotos und ein Video vom Edgewalk sind im Ticketpreis inbegriffen. Den Lieben daheim fällt angesichts von so viel Heldenmut die Kinnlade herunter. Der urkundlich ausgewiesene Edgewalker muss ja nicht erzählen, dass er zwischen Himmel und Erde die Hosen ganz schön voll hatte.
Übernachten: Hotels in Downtown Toronto sind kein Schnäppchen. Realistischerweise muss man mit 300 Dollar pro Nacht und Zimmer in einem Drei-Sterne-Hotel rechnen. Das Frühstück kommt extra. Wer in einer Hotellegende wie dem Fairmont Royal York übernachten möchte, zahlt rund 500 Dollar die Nacht und Zimmer. Es empfiehlt sich, die Preise auf verschiedenen Buchungsportalen zu vergleichen.
Unterwegs in Toronto: Fast alle Sehenswürdigkeiten können zu Fuß erreicht werden. Wer auch mal die Außenbezirke erkunden möchte, kann sich einen Tagespass für U-Bahnen, Tram und Busse kaufen. Er kostet 13.50 kanadische Dollar und wird in den U-Bahn-Stationen verkauft. Ein Einzelticket kostet 3,25 kanadische Dollar.
www.ttc.ca
CN-Tower: Es gibt unterschiedliche Tickets für den Besuch des CN-Towers. Wer nur das Observation Deck in 346 Metern Höhe besuchen möchte, zahlt 43 kanadische Dollar. Für Jugendliche zwischen sechs und 13 Jahren kostet es 30 kanadische Dollar. Auf 447 Metern liegt der Skypod, die höchstgelegene Aussichtsplattform der westlichen Hemisphäre. Das Kombiticket kostet 53 kanadische Dollar bzw. 40 kanadische Dollar. Tickets für den Edgewalk sind ab 195 kanadischen Dollar zu haben; der Preis richtet sich nach Tag und Zeit. Da die Touren häufig ausgebucht sind, ist eine frühzeitige Online-Buchung sinnvoll.
www.cntower.ca